PORTRAIT


„Und alles passiert von selbst“ - Ein Portrait der Künstlerin Oksana Kyzymchuk

Jens-Philipp Gründler

Ein Portrait über die auf mannigfachen Feldern tätige Künstlerin Oksana Kyzymchuk zu schreiben, ist eine große Herausforderung, da ihr Œuvre so umfangreich und faszinierend ist. Um angemessene Worte für Kyzymchuks breitgefächertes Werk zu finden, bedarf es einer exemplarischen Herangehensweise. So soll in den folgenden Zeilen das Hauptaugenmerk auf die Fotografien sowie die grafischen Arbeiten gelegt werden, um anhand einer solchen Auswahl zu versuchen, den Antrieb hinter ihrem sowohl hochqualitativen wie auch quantitativ vielgestaltigen Output zu beschreiben. Mittels fast schon spielerischer Leichtigkeit bedient sich Kyzymchuk verschiedener Techniken und Materialien, welche sich zu einem grandiosen Gesamtwerk vereinen, einer mehrschichtigen Dimension der Kreativität. Unbefangen, unverkennbar und meisterhaft ist der Stil der in der Ukraine geborenen Malerin, Fotografin, Filmerin, Sängerin und Literatin, die mit ihren Luftgeistern auch Skulpturen erschafft. Hierbei beeinflussen sich die unterschiedlichen Medien wechselseitig, besonders Malerei und Fotografie gehen miteinander einher.

Kyzymchuks fotografische Portraits erinnern in ihrer eleganten Schlichtheit an in Stein gehauene Skulpturen, an aus rauen Felsen herausgeschälte Edelmetalle. Mit ihrer Kamera fängt die Fotografin nicht weniger als die Essenz, die Seelen der Abgebildeten ein, um diese auf humanistische und intime Weise voller Respekt widerzuspiegeln. Hier gibt es keinen Platz für Sensationslust, oder künstlerischen Exhibitionismus, stattdessen werden die beeindruckenden Viten, Lebensgeschichten der Menschen nachvollziehbar und auf herzerwärmende Weise spürbar. Blicken die Betrachter in die fotografierten Gesichter, entsteht ein Gefühl von Nähe, Unmittelbarkeit und ästhetischer Absolutheit. Vergleichbar mit Heiligendarstellungen aus der Frührenaissance erfasst das Auge hinter dem Objektiv eine schwer zu definierende, gewisse metaphysische Präsenz, etwas Geheimnisvolles, das in den Aufnahmen offen liegt. Es mag anmuten, als könne man sich während der Betrachtung in den Herzschlag, aber auch in die Ängste, Sorgen, Hoffnungen, in eine Art tiefer Religiosität der Gezeigten hineinfühlen. Genau darin liegt die künstlerische Meisterschaft, die zum Hebel wird, um die wahre Welt hinter den Dingen zum Vorschein zu bringen, möchte man diesen platonischen Vergleich bemühen.

Die naturalistische Ebene von Kyzymchuks Arbeiten offenbart sich durch ein hohes Maß an Empathie, welche beim artistischen Vorgehen, beim Abbilden des Natürlich-Humanen unabdingbar ist. Aus einer zartfühlenden Sichtweise heraus, lädt die Fotografin ihr Publikum in eine ganz eigene Welt ein, so etwa in die bäuerliche Kultur in der ukrainischen Provinz. Liebevoll aufgenommen, von hoher Sensibilität geprägt und emotional ansprechend sind die eindrucksvollen Fotografien der 1983 in Novovolynsk zur Welt Gekommenen. Monatelang bereiste Kyzymchuk ihre Heimat, um die dort lebenden Menschen in ihrer Umgebung zu portraitieren. Hierbei entstanden ikonenhafte, das einfache Leben darbietende Aufnahmen. Man sieht Kinder mit ihrer Mutter im Schnee, alte Männer beim Holzhacken, einen entrückt wirkenden Geigenspieler, einen vor Heiligenfiguren sitzenden, seine Orden stolz präsentierenden, ehemaligen Soldaten, Frauen mit selbstgemachten Körben oder bei der Arbeit am Webstuhl. Alle Portraits verbindet eine Art transzendentaler Expressivität, welche mit dem Realismus verschmilzt. Man erahnt augenblicklich, dass diese Menschen Kämpfernaturen sind, auch wenn manche der Impressionen melancholisch erscheinen. Diese auf dem Land oder in kleinen Städten Lebenden vermitteln den Eindruck von Permanenz, Präsenz und eine angenehme Spielart von Stolz, Stolz auf ihr Lebenswerk und die Geschichten, die sie erzählen. Kyzymchuk, deren literarische Texte von hoher Qualität sind, schrieb diese ukrainischen Erzählungen auf, veröffentlichte sie im Jahre 2016 in dem Fotoband Kindheit unter den Eichen.

Die individuelle Würde und Ernsthaftigkeit der Gezeigten wird auch deutlich, wenn der Betrachter auf Details stößt, die vom großartigen Humor der Künstlerin zeugen. Dieser schimmert immer wieder durch, sehen wir doch nicht nur sakral anmutende Portraits, sondern häufig auch lachende, vor Glück strotzende Individuen. Ernst und Witz machen Kyzymchuks Arbeitsweise aus, bilden komplementäre Paarungen. So lichtete Kyzymchuk eine Wäscheleine mit zum Trocknen aufgehängten Handtüchern ab. Eines davon zeigt den Hollywood-Schauspieler Johnny Depp in seiner berühmten Rolle als Captain Jack Sparrow. Auch wenn die Melancholie ein bedeutsames Element ihres fotografischen Werks darstellt, sorgt Kyzymchuk für einen interpretatorischen Freiraum auf Seiten der Betrachter und einen auf die Freiheit der abgebildeten Charaktere bezogenen Spielraum. Man ist geneigt zu sagen, dass alle charakterlichen Regungen, alles erdenklich Humane in den Bildern auftaucht. Keine Note wird ausgespart, die gesamte Klaviatur des Menschlichen bedient. Uns begegnen freie, stolze Persönlichkeiten, deren Blicke uns nichts verheimlichen, sondern dazu einladen, im Rahmen der Betrachtung eigene Geschichten zu ersinnen.        

Während ihrer Reisen durch die ukrainische Heimat, entdeckte Kyzymchuk, neben der Fotografie, andere Kunstformen. Sie begann zu schreiben, zu filmen und widmete sich dem Gesang. Indem sie sich unterschiedlicher Medien bediente, fand die Künstlerin neue Blickwinkel auf die Welt. Diesen Prozess vergleicht sie mit einer persönlichen Transformation, habe doch die Kunst eine ureigene Note, eine unnachahmliche Handschrift zu entwickeln und zu tragen. Inneres müsse nach Außen transportiert werden, so Kyzymchuk, denn die Nachahmung des bereits Vorhandenen sei sinnlos. Jemand, der die Kunst wahrhaftig lebt, machte oft eine Metamorphose durch, sah sich – durch welche Gründe auch immer – dazu veranlasst, eine individuelle Sprache zu kreieren. Mitreißende, atemberaubende Kunstwerke erkennen die Betrachter sofort, ohne immer sagen zu können, worin die Faszination liegt. Kyzymchuks Kreationen sprechen zu den Betrachtern, holen sie ab und begleiten sie während des Wahrnehmungsprozesses, geben ihnen Werkzeuge in die Hand, mit deren Hilfe Interpretationen oder ästhetischer Hochgenuss möglich werden. Auf diesem Wege erkennt man die Qualität von Kunst, erweckt sie doch etwas Unmittelbares, Unvergleichliches sowie Aufwühlendes. Ein Kunsterlebnis kann verschiedenartig ausfallen: Das sinnlich erfasste Werk bedingt nicht ausschließlich Genuss und Wohlgefühl, natürlich kann es auch schockieren oder abstoßend sein. Bei Kyzymchuks Kunst eröffnet sich den Betrachtern eine Ebene, die Heimatgefühle und tiefgründige Menschlichkeit vermittelt. In der Perzeption ihrer Fotos fühlt man mit den Portraitierten und spürt einerseits subtile Verletzlichkeit, auf der anderen Seite Stärke und Selbstbewusstsein. Kyzymchuk schöpft aus dem überbordenden Reservoir der Lebensfreude und -lust, was auch auf ihre malerischen Arbeiten zutrifft.     

Hochenergetisch, dynamisch und dennoch zurückgenommen, begegnen den Betrachtern einzigartige Formen, sorgfältig komponierte Farben wie auch klassische Motive. Die Linienführung in ihren Grafiken ist gekennzeichnet von radikaler Freiheit, die Farbpalette weist kräftige Töne auf und Kyzymchuks bildnerische Gestalten werden von Positivität, Frohsinn und Lebensbejahung getragen. Die Künstlerin erläutert ihre Herangehensweise wie folgt: „Einfach zur Ruhe zu kommen und dem Pinsel einen rhythmischen Takt geben.“ In Bezug auf die Literatur würde man von einem stream of consciousness sprechen, einer natürlichen Bewusstseinsströmung, die auch Unbewusstes einfängt. Oder von der écriture automatique, dem im Kontext des Surrealismus bekannt gewordenen, automatischen Schreiben. Surrealistisch sind Kyzymchuks Motive, erinnern an Picassos Grafiken oder an Marc Chagall. Aber auch zeitgenössische Künstlerinnen, wie die ungarisch-amerikanische Malerin Rita Ackermann kommen dem Betrachter in den Sinn.

Diese komparativen Koordinationspunkte sollen zwar genannt, aber nicht allzu schwer gewichtet werden, da Kyzymchuks Werk für sich spricht, und eine ganz eigene Signatur aufweist. Wichtig sei es bezüglich ihrer Arbeit, dass der Kopf frei und die Einstellung zum Bild von Offenheit geprägt sei. Diese Haltung merkt man den kleinformatigen Grafiken an, atmen sie doch Frische, Abenteuerlust und einen Hauch von artistischem Anarchismus, von Unbeschwertheit.

Insofern die Voraussetzungen stimmen, wenn also die künstlerische Freiheit vorhanden ist und die Gedanken frei umherschweifen können, geht Kyzymchuk zu Werke. Hierbei hilft ihr Diszipliniert, Humor und das Eintauchen in andere Kunstformen. So verrät die Künstlerin im Interview, dass der Musik im Rahmen des kreativen Prozesses eine enorme Bedeutung zukomme. Im Atelier läuft Klassik oder Jazz, aber es wird auch gesungen, hat sich Kyzymchuk diese Kunstform doch erschlossen. Gern singt sie ukrainische Lieder, wenn der Pinsel ruht. Der Wechsel zwischen den künstlerischen Medien und Ausdrucksformen scheint eine notwendige Bedingung zu sein, um Inspirationen zu erhalten. Von einem Allroundgenie, wie dem Regisseur, Maler und Musiker David Lynch heißt es, dass er den ganzen Tag nichts anderes mache, als von Kunstform zu Kunstform zu wechseln. Mal wird gemalt, dann wird an einem Film gearbeitet, daraufhin widmet er sich der Musik.

Zu beneiden sind derartige Ausnahmetalente, zu denen auch Oksana Kyzymchuk zählt, denn sie leben ihren Traum und verwirklichen sich ganz und gar selbst. So definiert die Künstlerin Kunst als Spiegel des Seele und nennt Gottvertrauen als einen wichtigen Impuls. Indem sich das Individuum der höheren Kraft öffnet, kann es zu deren Vehikel werden. Energie vermag durch das Innere zu fließen, eine Form von Liebe, die den kreativen Menschen Dinge erschaffen lässt. Immer wieder, wenn uns ein solcher Vorgang begegnet, wenn wir Zeuge von wahrhaftiger Inspiration werden, ergreift uns ein wohliges Erschauern. Denn in einem solchen Augenblick vermögen wir uns als Teil eines größeren Ganzen zu betrachten. Sowohl in der Rezeption als auch im Erschaffen von Kunst scheint dann alles auf ganz natürliche Weise zu geschehen. „Und alles passiert von selbst“, so drückt es Oksana Kyzymchuk aus, und dem ist nichts hinzuzufügen.   



 


 
 
 
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