KINDHEIT UNTER EICHEN


Leseprobe aus "Kindheit unter Eichen", Oksana Kyzymchuk - erschienen 2016 im Kerber Verlag

"Tetjana und ihre Kinder"/ Hlynne, Rokytne Gebiet, Riwne Oblast,
Nach mehreren Stunden des Schlenderns biege ich von der Hauptstraße kurzentschlossen zu meinen Gastgebern ab – der Familie Ochremchuk.
Um die Mittagszeit wirkt Tetjana etwas müde und erschöpft. Sie stützt ihr Gesicht mit beiden Händen auf dem Esstisch ab. Ihre Kinder Oksana und Viktor springen in der Küche umher und machen lautstark Krach.
»Kinder, bitte seid ruhig! Nicht so laut! Macht langsam! Bleibt doch endlich mal still!«
Zermürbt wiederholt die Mutter mehrfach ihre Ermahnungen. Die Kinder lachen, setzen sich an den Tisch und unterhalten sich miteinander. Tetjana lädt mich schließlich kopfschüttelnd zum Mittagessen ein.
»Oksana, es gibt eine heiße Suppe und gekochte Kartoffeln! Komm doch, iss mit uns!«
Der Duft von Kümmel und Lorbeerblättern sowie von frisch angebratenen Zwiebeln liegt in der Luft. Neben einer Porzellankanne dampfen auf einem Teller frische Käsepfannkuchen. Dazu gibt es Tee. Auf dem Tisch steht ein Teller mit heißer Suppe. Die Familie hat schon gegessen und die Kinder springen weiterhin wild herum, bis sie schließlich das Haus verlassen. Nun, als es ruhig ist, wirkt die Vierundvierzigjährige ziemlich erleichtert.
Das Kindergelächter dringt leise von außen herein. Einen Moment schweigen wir und meine Gastgeberin verharrt für einige Augenblicke in ihrer Haltung. In diesen Sekunden betrachte ich ihre weiblichen Gesichtszüge. Ihre Haut ist mit Sommersprossen besprenkelt. Die Lippen und hellblauen Augen werden von einem locker nach hinten gebundenen Kopftuch umrahmt. Sie taucht aus ihren Gedanken auf, ein Lächeln belebt ihr Gesicht. In die Mittagsstille hinein fängt sie an zu erzählen.
»Du weißt doch, dass es in unserem Dorf viele Kinder gibt. Das ist hier eigentlich fast wie eine alte Tradition und heutzutage eine große Ausnahme. Bei uns bedeuten viele
Kinder Glück. Oksana, weißt Du, wie ich meine Kinder zur Welt gebracht habe?«
Tetjana rutscht auf ihrem Stuhl nach vorne, schiebt die Teller mit den Käsepfannkuchen beiseite und legt ihre Hände flach auf den Tisch. Ich kann mein Interesse nicht verbergen, was sie lächelnd bemerkt.
Die fünffache Mutter schaut mir direkt in die Augen und hält kurz inne. Ich warte gespannt darauf, dass sie weiter erzählt.
»Wie auch viele andere Frauen im Dorf habe ich meine Kinder zu Hause geboren, weil die Stadt mit dem Krankenhaus viel zu weit entfernt liegt. Es ist bei uns üblich, dass Mütter zu Hause gebären. Ich habe fünf und manche Frauen haben bis zu siebzehn
Kinder. Wie sollen Sie denn jedes Mal ins Krankenhaus kommen? Meine erste Geburt mit Iryna war im Krankenhaus, aber bei den Geburten von Ljuda, Sergij, Oksana und Viktor war meine Schwester als Hebamme anwesend. Ich habe dort drüben, in dem alten Haus meine Kinder zur Welt gebracht.«
Tetjanas Blick führt hinter die Fensterscheibe, ihre Stimme wird lauter und sie zeigt auf das alte, mit blauen Holzfenstern bestückte Gebäude auf der anderen Straßenseite.
»Siehst Du? In diesem Haus, das zurzeit leer steht. Noch bevor die Wehen einsetzten, spürte ich, dass es an dem Tag so weit sein würde. Doch ich war gerade alleine zu Hause und bevor meine Schwester kam, hatte ich schon warmes Wasser bereitgestellt und alles weitere vorbereitet. Ich wusste, dass ich es alleine schaffen muss und ich habe meine Kinder ohne ärztliche Hilfe bekommen. Es waren Geburten ohne größere Komplikationen und meine Schwester musste zum Schluss nur die Nabelschnur durchschneiden.«
Meine Verwunderung steht mir ins Gesicht geschrieben. Sie sieht mich an und lacht laut. Ich kann verstehen, dass es von Natur aus vorgesehen ist, Kinder alleine gebären zu können, aber heutzutage wirkt es ohne die Hilfe eines Arztes unvorstellbar. Mit einem verträumten Blick schaut meine Gastgeberin wieder aus dem Fenster und beobachtet Viktor und Oksana, die im Hof mit dem Hund Ball spielen.
Draußen ist es unerträglich heiß. Die Blätter und Äste des Apfelbaums vor dem Fenster werfen ihre kleinen Schatten auf die grüne Wiese. Auch die braune Stute Maschka versteckt sich unter diesem gefleckten Lichtmuster und weidet friedlich.
Liebevoll beobachtet Tetjana ihre Kinder. Sie ist eine tief religiöse Frau, die keine Feinde im Dorf hat und die immer gut über die Menschen spricht.
»Nach den vielen Geburten habe ich schwere Depressionen bekommen und wusste nicht, wie ich damit umgehen soll. Doch meine Kinder und der liebe Gott haben mir Kraft gegeben und jetzt geht es mir wieder gut. Könnte ich keine Kinder bekommen, hätte ich mir schon längst etwas Schlimmes angetan. Jetzt bin ich aber glücklich und weiß das, was ich habe, zu schätzen. Es gibt für mich keinen größeren Reichtum auf dieser Welt als meine Kinder und ich bin dankbar zu sehen, wie sie unter meiner Obhut groß werden.«
In der Küche wird es still. Während wir essen, springt eine schwarze Katze auf einen Stuhl und schaut frech in unsere Teller. Man hört nur das Geräusch der tickenden Uhr und ab und zu das Brummen des Kühlschranks. Tetjana schiebt die bestickte weiße Gardine beiseite, um eine bessere Sicht auf ihre Kinder zu haben. Danach fügt sie hinzu:
»Meine Füße schmerzen. Viele sagen, dass die Radioaktivität von Tschernobyl so etwas bewirke. Viele junge Frauen beschweren sich … aber wer weiß schon etwas Genaues?«
Tetjana steht auf. Nach der Mittagspause macht sie sich auf den Weg zu ihrem Kartoffelfeld, wobei sie das Spiel ihrer Kinder unterbrechen muss. Sie ruft Oksana und Viktor zu Hilfe. Der Vater der Kinder ist mit dem älteren Sohn am Tag zuvor in die Hauptstadt gereist, um Geld für die Familie zu verdienen. Bevor die Heidelbeersaison beginnt, will Tetjana mit den Kindern die Feldarbeit erledigt haben. Viktor spannt schon die Pferdekutsche an. Alle nehmen Platz im Pferdewagen: hinten sitzen Oksana und ihre ältere Schwester Irina, die als Lehrerin in der Dorfschule arbeitet. Der jüngste Sohn, der vierzehnjährige Viktor, ist zurzeit der einzige Mann auf dem Hof und hat somit ganz eigene Pflichten.
Er setzt sich vorne ans Steuer neben seine Mutter. Das kastanienbraune Pferd zieht den Wagen an und trabt die unebene Straße entlang. In der Weite verklingen ihre Stimmen. Ich stehe noch einen Moment an der Straße, bis auch die Umrisse der Pferdekutsche verschwimmen und sich schließlich ganz im Flimmerlicht der Hitze verlieren.
Drei Jahre später
Wieder bin ich zu Gast bei dieser Familie und wieder heißen sie mich herzlich willkommen. Bei diesem zweiten Besuch in Hlynne steht ein großes Ereignis an: Viktors Schulabschluss.
Die öffentliche Feier findet auf dem Schulgelände statt und alle Schulklassen sind festlich aufgereiht. Doch Tetjanas Sohn wirkt nachdenklich und zurückgezogen. Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass dieser einst kleine, sommersprossige Junge jetzt zu einem erwachsenen, gutaussehenden Mann herangewachsen ist. Seine Sensibilität hat er jedoch nicht verloren. Gerne lässt er sich von mir zur Gratulation umarmen. Manche Menschen können Fremden das Gefühl geben, bei ihnen willkommen und zu Hause zu sein. Genau dieses Gefühl vermittelte mir die Familie Ochremchuk.





 

 
 
 
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